Page 9 - Kirchgeldbrief_2018
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aus der großen Familie unserer Vorfahren. Wenn wir an Allerseelen die Gemeinschaft
mit den Verstorbenen feiern, dann fühlen wir uns getragen.
Da stehen viele hinter uns und stärken uns den Rücken. Gerade heute, in einer Zeit, in
der so viele vereinzelt und vereinsamt sind, gibt uns das Fest das Gefühl, dass wir nicht
allein dastehen. Das Bewusstsein, an den Wurzeln der Verstorbenen teilzuhaben, stärkt
den eigenen Lebensbaum. „Ohne Wurzeln keine Flügel“ – so drückt es ein Psychologe
aus. Und Wurzellosigkeit ist oft der Grund für Depressionen.
Der Baum, der keine Wurzeln hat, verdorrt, sobald es Krisenzeiten gibt. Daher ist es
heilsam, an Allerseelen der Verstorbenen zu gedenken, um an den Wurzeln
teilzuhaben. Ein guter Weg, mit den Wurzeln der Verstorbenen in Berührung zu
kommen, sind die Rituale. Indem wir die gleichen Rituale feiern, an denen sich die
Verstorbenen festgehalten haben, um ihr Leben zu bestehen, haben wir teil an der
Glaubenskraft und Lebenskraft der Verstorbenen.
Das Gebet verbindet Himmel und Erde
Am Fest Allerseelen können Sie mal bewusst das Vaterunser meditieren. Stellen Sie
sich vor, dass der verstorbene Vater, die verstorbene Mutter, die verstorbenen
Großeltern dieses Gebet oft täglich gebetet haben, wie es sie durchgetragen hat durch
Zeiten des Krieges, der Armut, der Krankheit, des Leids. Vielleicht erinnern Sie sich
noch an den Tonfall, mit dem die Verstorbenen es gebetet haben. Ich selbst erinnere
mich noch an meinen Vater, wie existenziell für ihn die Bitte „Unser tägliches Brot gib
uns heute“ war, als die Bank nach dem Konkurs seines Geschäftes unser Haus, in dem
meine Eltern mit ihren sieben Kindern wohnten, versteigern wollte. Und dass die Bitte
„Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“ ihn davor
bewahrt hat, zu verbittern über das Unrecht, das ihm damals geschehen ist.
Wenn ich das Vaterunser bete, habe ich teil am Glauben meines Vaters. Wenn Sie an
Allerseelen das Vaterunser gemeinsam mit der Gemeinde auf dem Friedhof beten oder
wenn Sie es allein vor dem Grab Ihrer Eltern beten, dann können Sie sich vorstellen: Ich
habe jetzt teil am Glauben meiner Eltern. Und Sie können sich vorstellen: Meine Eltern
beten dieses Gebet Jesu jetzt als Schauende, während ich es als Suchender, als
Zweifelnder, als Glaubender bete. So verbindet das Gebet Himmel und Erde, uns
Lebende mit den Verstorbenen. Der Himmel öffnet sich über unserem Gebet.
Konfrontation mit dem eigenen Tod
Das Fest Allerseelen und unser Denken an die Toten erinnert uns auch an den eigenen
Tod. Diese Erinnerung lädt uns ein, jetzt im Augenblick zu leben, intensiv und bewusst
zu leben. Das Wissen um die Endlichkeit des Lebens verstärkt das Leben. Wir hören
auf, nur so dahinzuleben. Wenn ich weiß, dass mein Leben begrenzt ist, dann versuche
ich, in Begegnungen nicht oberflächlich daherzureden, sondern die Worte zu sagen, die
ich wirklich sagen möchte und die mich in Berührung bringen mit den Menschen. Wenn
ich weiß, dass jede Begegnung die letzte sein könnte, werde ich sie bewusster erleben.
Text: Pater Anselm Grün, www.anderezeiten.de; In: Pfarrbriefservice.de